Zum Inhalt springen

 

Evangelium – ein wenig verspätet

Eine wundersame Geschichte über einen wunderlichen Menschen

 

Was das sein soll?

Nun ja, ich habe den Ruf, nicht gerade zu den schnellsten Zeitgenossen zu zählen. „Ist der Gerhard da? Ja? Okay, dann sind wir komplett!“

Deswegen ist es wohl verständlich, dass auch „mein“ Evangelium mit etwas Verspätung erscheint – einer geringfügigen Verspätung bloß, denn was sind schon läppische zweitausend Jahre gegen die in dieser Thematik so oft zitierte Ewigkeit!

Heute, nach dieser langen Zeit versuche ich wahrscheinlich dasselbe wie damals angeblich Matthäus, Markus, Lukas und Johannes: Ich schreibe eine Geschichte über einen ebenso „wundervollen“ wie „wunderlichen“ Menschen, verwende ein paar Zitate oder Begebenheiten aus Überlieferungen und füge eine gute Portion eigener Anschauung bzw. Interpretation dazu.

Halt! Einen wesentlichen Unterschied gibt es schon: Ich behaupte nicht, dass meine Geschichte wahr ist!

Aus diesem Grund kann ich die Handlung auch in der jüngeren Vergangenheit ablaufen lassen, an einem vollkommen anderen Ort – und somit die Spekulation anstellen, wie es Jesus wohl heutzutage ergehen würde. Wer hätte in diesem dramatischen, bedeutenden Spiel welche Rolle inne?

Ob ich mich mit meiner Abwandlung von den damaligen Geschehnissen noch weiter entfernt habe, oder dem Original wieder nähergekommen bin, wird bis zur Erfindung der Zeitmaschine wohl nicht einmal der beste detektivisch begabte Historiker herausfinden.

Im Grund genommen ist diese Frage auch weniger von Bedeutung. Das Werk soll lediglich zum Nachdenken anregen – und wenn aufgrund dessen nur ein einziges freudvolles Werk (für andere oder einem selber!) geschieht, das sonst unterblieben wäre oder auch nur eine einzige leidvolle Tat weniger vollbracht wird, dann sind diese Zeilen bereits ein grandioser Erfolg!

Dieses Buch wollte für so lange Zeit keiner drucken oder verlegen. Nur ich habe es manchmal verlegt – aber zum Glück immer wieder gefunden!

Aufgrund dessen kann ich Dich nun in ein paar Leseproben aus der fiktiven Realität meiner drei Hauptfiguren führen und wünsche Dir auf Deiner Reise durch meine Phantasie viel Muße und Freude!

_______________________________

 

Sie schritt langsam den Hügel hinab. Ihre Sandalen wirbelten feine Staubwölkchen in die Luft. Fortwährend zermarterte sich die Frau den Kopf, wie das entsetzliche Geschehen hätte verhindert werden können. Maria Magdalena wandte sich um. Der tränenverschleierte Blick nahm nur undeutlich jene drei Holzkreuze gegen den sich lichtenden Himmel aus.

Und irgendwann in der endlosen Zeit, die wir haben, vollendet das Karussell seine Runde, beginnt den ganzen langen Weg aufs Neue, …

_______________________________

 

… irgendwo, erst gestern!

Es war Sommer in der Stadt. Einer von denen, die sich vom Winter lediglich durch ein paar Grade mehr auf dem Thermometer und einige Regentropfen weniger unterschieden. Und es war eine von vielen Städten an der Ostküste. Welche? Irgendeine.

An der Ostküste. Wie das klingt! Vernimmst du bei dem Zusatz das dumpfe Rauschen der Brandung, das schrille Kreischen der Möwen und das monotone Tuckern kleiner, rostiger Kutter? Atmest du nicht auch eine frische Brise Salzwasserluft mit einem kleinen Schuß Fischodeur darin? Nichts dergleichen! Schließlich war der Ozean in Wirklichkeit einige Meilen von der Metropole entfernt. Wenn hier etwas rauschte, dann höchstens die Wasserspülung des Mieters oberhalb. Das Kreischen und Tuckern stammte von einer viel zu früh angeworfenen Maschine im Hinterhof einer kleinen Fabrik. Und es roch in dieser Straße nicht frisch – aber seltsamerweise dennoch nach Fisch. Zumindest jetzt eben am frühen Morgen, zum Beginn unserer Geschichte.

Es war gegen sieben Uhr, nahezu nachtschlafende Zeit für jenen Gutteil der Einwohner, die es gewohnt waren, erst um neun ihr Tagwerk zu beginnen. Deshalb war gegenwärtig auch noch jedes kleinste Geräusch zu hören, denn der Blechstrom, welcher sich sonst zähflüssig durch die Häuserschluchten wälzte – so träge wie der breite Fluß, der die Stadt in Richtung Atlantik durchfloß – war noch nicht aus seinen steinernen Quellen hervorgebrochen. Nur eines der vielen gelben Taxis bummelte soeben unsere Straße entlang. Entweder der Fahrer begann gerade seinen Dienst, oder er hatte sich hoffnungslos verirrt. Denn wer sollte um diese Zeit in diesem Stadtteil ein Taxi chartern? In den umliegenden Häusern wohnten Leute, die ihr Geld lieber in Bier und Höherprozentigem anlegten oder es zum nackten Überleben brauchten, statt es für ein Taxi auszugeben. Der Bus war allemal schnell genug. Eine U-Bahn hatten die Stadtväter ja zu bauen vergessen – damals, als noch Zeit dafür gewesen wäre. Jetzt war es dafür zu spät. Und außerdem: Der Bus war ja allemal schnell genug.

_______________________________

 

Simon Petrus

Ein einsamer Straßenkehrer stand mitten im sinnlosen Kampf gegen den Unrat in dieser Straße. Sisyphus war ein Glückspilz gegen ihn. Und ein offenbar an Arbeit gewöhnter Mann mit Lederjacke und grobschlächtigem Gesicht lud gerade Holzkisten von einem kleinen Lastwagen ab. Die Behältnisse waren voll mit frischem Fisch – so frisch dieser eben sein kann, wenn er schon zahlreiche Meilen von der Küste bis zur Stadt hinter sich hat. Fisch in allen Formen, Arten und Größen. Hunderte runde Augen blickten starr und tot zum farblosen Himmel. Daher also jener Geruch, der sich viel weiter durch unsere Straße zog, als den Anrainern lieb war!

Die abgeladenen Holztragen wurden von kräftigen Händen gepackt und in einen kleinen Laden bugsiert. „Potters delikater Fisch“ stand auf einem nicht gerade modernen Schild über dem winzigen Schaufenster. Aber die vom Rackern und Schuften gezeichneten Hände gehörten nicht Mr. Potter. Oh nein! Benjamin Potter war eine Berühmtheit hier im Viertel. Ihm gehörten vier Läden in der Umgebung und nicht etwa rissige Hände mit Schwielen daran. Potter ließ arbeiten, er tat es nicht selbst.

Und an diesem Ort ließ er es Peter Simmons tun. Dieser Mann hatte nicht nur in aller Herrgottsfrüh Fischkisten zu übernehmen und deren Inhalt zu versorgen, sondern obendrein ab halb neun Uhr morgens hinter dem Ladentisch zu stehen und die Ware zu verkaufen. Der Angestellte hatte nicht bloß kräftige Hände. Zu Peters muskelbepackter, überdurchschnittlich großer Gestalt gehörte auch ein mächtiger Kopf mit schwarzen Wuschellocken. Das heißt: Es waren einmal schwarze Wuschellocken gewesen. Peters Alter von einundvierzig Jahren war für das Silbergrau an vielen Stellen verantwortlich, und der Kahlschlag seiner Mannesjahre hatte unter Beihilfe von etwas Nachlässigkeit die Locken zu ein wenig ausgedünnten, langen und glatt nach hinten gebundenen Strähnen werden lassen. Ein kantiges Gesicht mit kräftiger Nase und sehr forschen Augen unter buschigen Brauen hatte schon viele zur Vorsicht gemahnt. Jener wilde Bart, der das Gesicht umrahmte, tat sein übriges. Das war Peter Simmons.

Er arbeitete schon seit über zwei Jahren für Benjamin Potter. Der Unternehmer zeigte sich zwar nicht begeistert von seinem Mitarbeiter, aber es ging. Peter wußte zu arbeiten. Das hatte er sich aus seiner Zeit als Bauarbeiter erhalten. Der Mann war eine Spitzenkraft in diesem Metier gewesen – bis zu seinem Unfall damals. Ein wenig hinkte Peter noch, unmerklich für alle, die nichts von der Geschichte wußten. Aber eben genug, um damals seinen angestammten Beruf aufgeben zu müssen. Es waren ab diesem Ereignis für den Rekonvaleszenten schwere Zeiten angebrochen. Manch dunkles Haar aus seiner Pracht hatte damals seine Farbe verloren, als auch Zuversicht und Selbstvertrauen aus seinem Leben verschwanden. Peter war heilfroh gewesen, daß Benjamin Potter ihm nach langen Monaten endlich jene Stelle im Fischgeschäft gegeben hatte, die anscheinend sonst kein anderer wollte. Und Peter blieb. Aber er blieb nicht so, wie er einst einmal war.

So mancher derbe Fluch begleitete die Lieferung auf ihrem Weg in das Innere des Ladens. Und ein Fußtritt an jede Kiste, die endlich an Ort und Stelle angelangt war, bekräftigte Peters Mißfallen am Thema „Fisch“. Er trat vor die Tür, machte einen flüchtigen Blick auf jene Warenliste, die ihm der Mann in der Lederjacke unter die Nase hielt und unterzeichnete das Papier brummend, in krakeliger Schrift. Der andere nahm weder am Gebrumm noch an der unleserlichen Unterschrift Anstoß, drückte Peter den Durchschlag des Formulars in die tranige Pranke, schwang sich hinter das Lenkrad seines desolaten Lasters und fuhr los. Ein Blick in den zitternden Rückspiegel hätte ihm den Zurückbleibenden gezeigt, der dem Wagen von der Randsteinkante aus finster nachblickte.

Da fuhr er hin, der Urheber all seines Übels! Kein Fischer – kein Fisch. Kein Fisch – keine Fischkisten. Keine Fischkisten – kein Fischgeschäft. Kein Fischgeschäft – ach ja! Kein Fischgeschäft – kein Job – kein Geld. Der für Peter Simmons betrübliche Ausgang einer Spekulation, die so vielversprechend begonnen hatte.

Die Zeiten waren düster, die Wirtschaft auf dem Boden – auch in unserer Stadt an der Ostküste. Den meisten Betrieben in der Umgebung ging es dreckig. Und den Leuten, die dort arbeiteten, ging es durchwegs noch viel dreckiger. „Gesundschrumpfen“ nannten es die Manager hochtrabend. „Ohne Job sein“ sagten die Leute hier im Viertel wesentlich trivialer dazu. In diesem Bezirk wohnten Arbeiter und Nicht-Arbeiter. Letztere waren überwiegend unfreiwillig zu solchen geworden. Und die freiwilligen Angehörigen jener Spezies schliefen entweder in den Hauseingängen und Hinterhöfen oder sie holten sich ihr Geld mit Gewalt, Tricks, Dealen oder Zuhälterei von den weniger Armen. Nur allzu oft war es in dieser Gegend ratsam, muskelbepackt, groß und so gefährlich auszusehen wie Peter.

Jener starrte immer noch die Häuserzeile hinunter. Der klapprige Lastwagen war längst um irgendeine Ecke gebogen. Dabei führte die Straße doch schnurgerade zum Highway, der den Fahrer rasch aus der Stadt und in Richtung Küste gebracht hätte. Man konnte vom Eingang des Ladens sogar die Stelle sehen, an der ihr Verlauf unter der vielspurigen Autobahn durchführte, immer weiter dem Zentrum entgegen. Auf dem Highway erwachte offenbar langsam der Straßenverkehr. Die Dächer größerer Fahrzeuge flitzten hinter der Steinbrüstung hin und her. Auch war ab und zu das Hupen besonders hektischer Zeitgenossen bis hierher zu hören.

Hinter der Stadtautobahn erhob sich wie ein fernes Gebirge die Skyline der City. Jene Bezeichnung war vielleicht etwas übertrieben, aber die Bürger – vor allem die Bürgermeister – waren stolz auf die Handvoll Wolkenkratzer, das Statussymbol jeder Metropole an der Ostküste. Wenn auch die Wolken einen Sturzflug hätten einlegen müssen, um sich an diesen Bauwerken noch kratzen zu können – die Häuser dort drüben waren jedenfalls um einiges höher, schöner und sauberer, als die Bruchbuden in den Blöcken hier. Man sah den mächtigen Bauten jenseits der querenden Trasse von außen nicht an, daß auch aus ihnen das große Geld längst in ein paar südwestlich gelegene Vororte geflüchtet war. Den Häusern diesseits davon sah man aber von allen Seiten an, daß niemals viel Geld in ihnen gewohnt hatte. Die Fassaden waren schmutziggrau, trostlos und abgeschlagen. Häßliche Feuerleitern prangten wie verunglückte Baugerüste an jeder davon.

Die Geschäfte hierorts waren allesamt klein, altmodisch und ohne jeden Aufputz. Die Bars in dem Gebiet lebten von billigem Fusel und von Prostitution. Die Lokale verdienten höchstens am schnellen Snack. Wenn das auch nicht die Hölle war, dem Fegefeuer kam es verdammt nahe. Den Leuten in diesem Viertel ging es schlecht – und „schlecht“ heißt in diesem Fall wirklich miserabel. So gesehen konnte sich Peter Simmons glücklich preisen, bei Benjamin Potter eine sichere, wenn auch nicht hochbezahlte oder gar geliebte Anstellung gefunden zu haben.

Ohne den positiven Ausgang dieser Betrachtung richtig zu würdigen, kehrte Peter mit einem Seufzer in das Innere des Fischladens zurück. Der Kundenraum des Geschäfts war so winzig und trostlos wie es die kleine, etwas verdreckte Auslagenscheibe schon von außen verhieß. Jetzt am frühen Morgen, da das Tageslicht noch nicht in das Lokal fallen konnte und die Neonbeleuchtung der Vitrine ausgeschaltet war, wirkte der Verkaufsteil noch trister als sonst. Ein zweiter Seufzer des hier Beschäftigten folgte daher. Peter schloß ab und begann, sich um die eingetroffene Lieferung zu kümmern. Eine Menge Arbeit. Er mußte sie erledigt haben, bis das Geschäft um acht Uhr dreißig wieder öffnete …!

 

Interessiert?

Beitragsbild: (c) Pixabay